Montag, 16. Mai 2011

Der Mann, der aus der Wüste kam, Roman


Texte aus Band 12

Ich konnte es nicht fassen, dass sie mir den Tod vorausgesagt hatten auf den Tag und die Stunde genau. Was hatte sie, die Frau, gesagt? „Wisse, dass ich diejenige bin, die man die Ewige nennt. Nur mir allein ist das gesamte Wissen vorbehalten. Wenn du wissen willst, musst du zu mir kommen, mich um Rat fragen!“ Ich setzte mich bequem hin und blieb eine halbe Stunde lang hocken. Zweifel packten mich, Furcht machte sich breit, schreckliche Ängste tauchten auf, weil ich nicht verstand, was mir da geschah und warum es ausgerechnet mit mir geschah und mit niemanden sonst. Ich beschloss aufzustehen und sie um Rat zu fragen. Ich erhob mich leise, schlich genauso lautlos durch die Tür, hörte noch, wie die anderen Kollegen vor der Fernsehkiste hockten und sich diese langweiligen Filme anschauten, die sie ablenken sollten von der grauen Realität hier, und setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. Manche der Gefangenen schauten mich komisch an, kamen dieses Mal dem Gitter sehr nahe, weil sie mich nie zuvor so leise und langsam durch den Gang schlurfen gesehen hatten. Ich kam mir ziemlich blöd vor, das war nicht meine Art, doch ich konnte nicht anders gehen. Es war in mir eine Macht erwacht, die mich zu dieser Frau wie magnetisch zog und ich wusste nur eines, dass dies Kraft immer stärker wurde und mich immer öfter zu ihr hinzog. Ich musste zu dieser Frau, weil sie mich in ihren Bann gezogen hatte und den Grund dafür nicht verstand. Irgendwie hatte ich es geschafft, dass ich vor Zelle Neun stand und sie liegend, schlafend im Bette fand, wie meine Kollegen es mir gesagt hatten. Ich stand da und begriff nicht. Was war mit mir passiert? Jetzt sprach ich sogar mir einer Schlafenden. Vorhin, was war vorher passiert, als sie dagestanden war an den Metallstäben? Hatte ich phantasiert? Nein, das konnte nicht sein. Sie war vor mir aufgetaucht und hatte geredet. Sie könnte mehr. Das stimmte, sie wusste auch um einiges mehr als alle andere Menschen, und darum hatte ich mich schon manches Mal gefragt, ob sie überhaupt ein Mensch war, eine Frau. Ich hatte nie zuvor solch ein Wesen gesehen, ein Wesen wie sie. Was behauptete sie selbst? Sie wäre eine Wesenheit, ein ewiges Wesen und sie wäre freiwillig hier und wäre nicht eingesperrt. Diese Frau gab mir unzählige Rätsel auf, unter anderem auch, wie sie es schaffte mit geschlossenen Lippen zu mir zu sprechen und im Schlaf mit mir zu kommunizieren. Da, Worte rissen mich aus meinen Gedanken. „Ich schlafe nicht, niemals, ich brauche ihn nicht, mein geliebter Sohn der Erde. Ich bin die, welche man die Hüterin des Schlafes nennt, die Schützerin eurer Träume. Ihr Menschen träumt und schläft, träumt von einer besseren Welt, einer schöneren und schafft es doch nicht, sie euch zu erschaffen. An mir ist es, euch mit wunderbaren Träumen und Wünschen auszustatten, euch ständig, euer ganzes Leben lang daran zu erinnern, dass es noch etwas gibt, was tief in euch schlummert, nämlich ich. Ich bin diejenige, die in jedem von euch ist, die ihr nicht vergessen, nicht verleugnen noch zerstören könnt. Ich bin diejenige, die ihr die Seele nennt und ich sage dir, das, was dir wiederfahren ist, war einer deiner schönsten Träume in deinen letzten Lebensjahren. Du hast dich erfahren als Wesen, das sich erinnert, sich an mich immer mehr erinnert. Du hast in dir eine für dich unbekannte Macht gespürt und dich gefragt, was mit dir los ist. Nichts ist geschehen. Du bist mir begegnet, hast aufs Neue meinen Worten gelauscht und hast mich gespürt. Weiter nichts. Nichts Schlimmes ist dir wiederfahren in meiner Welt – außer, dass du jetzt ein wenig klüger, etwas reifer und ein Stückchen gewachsen bist. Ja, du bist gewachsen. Ihr alle wächst! Habt ihr das vergessen in deinem Wüstenland? In eurer Wüste gibt es nichts außer der Wüste, alles ist öd und leer, doch – in meinem Land gibt es den wahren Reichtum, und er ist ein innerer und ein äußerer Reichtum. Schau mich nicht so komisch an. Ich liege hier und schlafe, na und? Merke, dass dies nur eine äußere Hülle ist, die ich mir zugelegt habe. In Wahrheit bin ich ohne jede Form. Die Seele besitzt keine Gestalt. Sie ist Seele, gestaltlos, zeitlos und ewig, begreifst du es jetzt. Ich kann vielerlei Gestalt annehmen und dies sogar gleichzeitig. Ich trage viele Gesichter, verstehst du mich jetzt besser. Ich bin das alles zusammen, die Frau, die hier liegt und schläft, die Frau an deiner Seite, die mit dir spricht, die unbekannte Gefangene, die wortlos Worte des Wissens aus deinem Körper strömen lässt, sodass du glaubst, es käme aus dir heraus. Wisse, dass du dich nicht getäuscht hast. Sie stammen aus dir, kamen aus dir, weil du noch nicht erkannt hast, wer du selber bist. Du glaubst, ich wäre unfrei wie du, ein Gefangener deiner Wüstenwelt. Wann begreifst du endlich, dass du ein freies Wesen bist wie ich und dass uns nichts trennt, weder Zeit und Raum noch eine bestimmte Form. Wann erkennst du, Wüstenmensch, dass es die Wüste nicht gibt, sondern nur immerwährendes Leben?“