Mittwoch, 6. Oktober 2010

Texte Band 10 Hinter Mauern





Es musste etwas ziemlich Wichtiges sein und gleichzeitig fühlte ich, dass es auch beängstigend war, denn es war keine leichte Sache. Es schmerzte wie bei Clarissa und sie, meine Freundin hatte sich gerade dem Schmerz geöffnet und ihn in ihr Leben gelassen. Auch dies gab es in unserer westlichen Welt immer seltener. Man trauerte ein wenig um die Toten, doch da auch nicht immer. Wenn Beziehungen in die Brüche gingen, nahm man das ziemlich locker und gelassen, stets fand sich nach wenigen Monaten ein neuer Partner oder eine neue Partnerin, die zwar meist dieselben Fehler hatte und durch die man dann noch einmal dasselbe Muster durchlief, das schon die erste Beziehung zerstört hatte, doch viele Menschen zogen es vor, in die Beziehung zu flüchten, anstatt sich zu fragen, was besser gemacht werden sollte, wo man sich selbst entwickeln konnte. Darum scheiterten ja auch sehr viele Ehen, weil man nur die Personen auswechselte und nicht das Thema, wenn man so will, änderte. Stets lief jahrzehntelang dasselbe Muster in der Familie und zuletzt stellte man fest, war man noch immer todunglücklich, bitterarm, frustriert und es hatte sich nichts geändert außer der Umgebung, das äußere Umfeld. Clarissa stand auf, meinte noch, sie käme gleich wieder und verschwand. Ich saß jetzt ganz alleine da, schaute auf die Uhr und entdeckte, dass es schon ziemlich spät war. Was war alles in diesen wenigen Stunden geschehen? Nicht dass ich etwas für heute geplant hatte, nein. Ich wollte nur zeitlich schlafen gehen, doch das konnte jetzt warten. Clarissa war mir lieb und teuer und da es uns beiden nicht gut ging, schadete es uns nicht, wenn wir beisammen blieben und uns aussprachen und gegenseitig unterstützten. Meine Indianer fielen mir ein. Niemals wäre so etwas Verletzendes passiert, in anderen Dörfern vielleicht schon, doch auch wenn Mann und Frau sich stritten und auseinander gingen, irgendwann kehrte der Friede ein. Ich dachte daran, dass diese Eingeborenen eine ganz besondere Lebensart hatten, die ich besonders schätzte und die ich bereits in Europa besaß und die meinen Eltern damals, eigentlich der ganzen Familie, nur schleierhaft geblieben waren. Sie verstanden nicht, dass man auch wildfremde Menschen wie seinesgleichen, wie seine besten Freunde behandeln konnte. Meine Eltern machten da große Unterschiede zwischen der Familie, den Bekannten und fremden Menschen. Ich hatte nie kapiert, was das sollte und hatte meine Leute stets vor den Kopf gestoßen. Ich war und blieb allen ein Rätsel, warum ich so war wie ich war. Ich hatte keinerlei Angst vor den Menschen, war als Kind sehr offen und wurde von meiner Familie wiederholt ermahnt sich an die Unterschiede, die ja in ihren Augen da waren zwischen den Menschen, zu halten. Ich hingegen sah keinerlei Grund einem Fremden mit Misstrauen zu begegnen, nur weil er mir unbekannt war, ich plauderte mit denen, sehr zum Ärger der Familie, die mir wiederholt klar machte, dass das eventuell böse Menschen wären, da sie anders denken würden, was ja normal war, denn wer dachte schon wie man selbst. Auf jeden Fall versuchten sie bei mir diese Gehirnwäsche anzuwenden, doch es half nichts. Mein Großvater, den ich sehr mochte und der sehr früh verstorben war, war der einzige der mich verstand, der zu mir hielt und der meine Eltern daran erinnerte, dass es so etwas wie Gastfreundschaft gab, und dass ständiges Misstrauen den Menschen gegenüber nicht angebracht sei. Auf jeden Fall war meine Familie über mein Verhalten sehr aufgebracht und darüber hinaus noch mehr, weil ich die Gewohnheit hatte, diese Fremden auch auszufragen, sehr persönliche Dinge fragte und ihnen auch ihre Fehler und Schwächen liebevoll auf meine kindliche Art und Weise aufzeigte. Dies nutzten wiederum meine Eltern aus, um mich eindringlich zu ermahnen, kein Sterbenswörtchen mit diesen verkommenen Leuten zu reden, weil sie lauter Fehler hatten. Mich störte das letztere nicht im Geringsten, ich wusste selbst, dass jeder Mensch gute und schlechte Seiten hatte und ich mochte gerade diese Fremden, eben weil sie offen mit mir sprachen und mich darum schätzten, besonders. Im späteren Leben, als ich schon in Südamerika lebte, bin ich diesen Indianern weiter im Süden, in Brasilien, begegnet und auch diese hatten diese freundliche Art gegenüber Neuankömmlingen. Ich hatte mich mit ihnen auf Anhieb verstanden. Ich schäkerte mit ihnen herum, alberte mit ihnen und wir sagten uns auch gegenseitig unsere Fehler und Schwächen ins Gesicht. Dies taten wir, nicht um den anderen zu verletzen, es war gerade so was wie eine Kunstform, eine höhere Form des Kommunizierens, einem Fremden sein Innerstes anzuvertrauen, weil wir beide, der andere und ich innerlich spürten, dass wir auf derselben Wellenlänge schwammen und uns gegenseitig mochten. Diese Art von Begegnung ist mir zwar häufiger geschehen, allerdings in Europa nie passiert. Da gab es zwischen den Menschen und mir zu viel Distanz. Diese Menschen hier vertrugen es nicht, wenn man gleich bei der ersten Begegnung sich öffnete, man musste bei diesen ängstlichen Personen erst ihr Vertrauen gewinnen. Anders war es bei meinen Indianern, da hatte ich gleich bei der ersten Begegnung das Gefühl, ich konnte mich ihnen öffnen und ihnen alle meine Gedanken und Gefühle schildern und sie würden es mir nicht krumm nehmen, wenn sie heraus fanden, dass ich große Schwächen und Fehler hatte. Wer hatte die nicht! Nein, zwischen uns gab es eine große Offenheit, es wurde auf humorvolle Weise der andere auseinander gelegt, denn das lernte ich bei diesen Indianern, dass man sich selbst genug achtete und es ertrug, dass man über sich und seine Fehler lachen konnte. In Europa konnte ich dies nie tun, hatte es zwar versucht, aber der eine Mann da am Flughafen, hatte mich erbost angeschaut, hatte mich nicht verstanden und hatte sich in seiner Privatsphäre verletzt gefühlt. Es verband mich mit diesen Indianern ein starkes Band, das so mächtig war, wie eben jetzt, als Clarissa neben mir saß. Auch sie mochte ich und sie tat mir furchtbar leid, weil ich sie für eine wunderbare Frau hielt, wie es sie nicht alle Tage zu finden gab und weil wir beide gut miteinander harmonisierten. Zumindest dachte ich es so. Dass diese Zivilisierten kein offenes Gespräch wagten wusste ich, das einzige was diese Menschen kannten, war den anderen anzugreifen, verbal zu attackieren oder anzulügen, das hatte ich bereits festgestellt und war denen ins offene Messer gelaufen. Einmal hatte mich ein Franzose in Paris offen angegriffen, weil ich ihm seine Arroganz als Spiegel vorhielt und ich ihn daran erinnerte, dass er ordentliche Ängste in sich trug, die noch aus seiner Kindheit herrührten. Anstatt sich zu bedanken für diese Aufmerksamkeit von mir, ich war dies ja von meinen Indianern gewohnt, griff er mich verbal an, schimpfte mich und hackte eine halbe Stunde an mir herum. Danach ließ er ab von mir, denn er trug so viel Hass in sich, stand auf und drohte mir beim Abschied, sich zu rächen. Nun verstand ich, warum ich Europa nicht mochte. Die Menschen feierten zwar in diesen Breiten Geburtstag und Weihnachten, hatten an vielen christlichen Feiertagen frei, doch wirklich feiern konnten sie nicht. Indogene Völker zelebrierten, wenn sie noch Wert auf ihre Tradition leben, sehr viele Feste, und sie alle dienten dazu, uns zu erinnern, dass wir Wesen sind, die wachsen und reifen. Ein Urwaldindianer feiert nicht Geburtstag. Dass er älter wird, weiß er, doch gibt ihm das noch nicht Anlass genug, ein Fest für alle zu veranstalten. Erst wenn etwas Entscheidendes passiert ist, dass er beispielsweise zu einer wichtigen Erkenntnis gelangte, dass er einen anderen grundlos gehasst oder dass er seine Trauer überwunden hatte, gab er ein Fest und sprach offen über seine Beweggründe, seine Gefühle und über seine neue Gedanken. Wir hingegen hier feierten und entwickelten uns nicht weiter, das einzige was wir taten war, uns weiter fürchten, noch mehr zu ängstigen und andere zu peinigen. Im Grunde dienten alle diese Feste dazu, um uns zu zeigen, dass wir heil und ganz werden konnten. Doch Heilung war und ist in Europa, in der westlichen Welt ein Fremdwort geworden, darum verstanden mich auch diese Fremden heute nicht mehr. Sie hielten mich schon im Flugzeug heute für verrückt, weil ich offen war, nannten mich naiv, weil ich noch scheinbar an die heile Welt glaubte. Dabei war es gerade umgekehrt. Ich sah im Gegensatz zu vielen Tauben und Blinden genau, was sich da auf unserer Weltbühne abspielte, welche Tragödien gestartet wurden tagtäglich, und ich dachte immer daran, den Menschen Heilung zu bringen. Die Menschen besaßen zu wenig Humor und sie begriffen nicht, dass ein bestimmter Humor, eine gewisse Lächerlichkeit sehr nahe der totalen Verzweiflung kam, wie gesagt nur sehr nahe kam. Es war dies eine Kunst, um sich selbst bewusst zu werden, die Schrecken und Grauen unserer Welt zu verarbeiten und viele bekannte Schriftsteller kannten diese Kunstform. Dieses überspitzte offene Geständnis an die anderen, diese Lächerlichkeiten, wobei es nicht darum ging, den anderen bewusst oder unbewusst zu verletzen, sondern es ging einmal darum dem anderen Guten Tag zu sagen, ihn auf seine Fehler, die er sich da gerade erlaubte hinzuweisen, nicht in böser Absicht, sondern in guter, weil man sich ihm ja als guter Freund verbündet fühlte. Ich musste bei diesen Gedanken an meinen besten Freund, einen Medizinmann denken, der mir selbst sehr viel beigebracht hatte durch seinen Humor und seine Direktheit und Offenheit, wie er meine Fehler und Schliche mir nahe brachte. Nur so gelang es mir, mich innerhalb kürzester Zeit, zu verändern und diese indianische Haltung und Lebensweisheit zu erlangen. Wenn ich hingegen an die europäische Gewohnheit dachte, an dieses Misstrauen mir gegenüber, diesen Argwohn, dass alles, was ich sagte, abgewogen, zehnmal im Mund zerkaut wurde und wenn dann mal eine etwas bissigere Bemerkung von mir herüber kam, ich sofort böse Blicke, Ablehnung und Hass spürte, dann sagte ich mir, dass diese Menschen niemals daran Interesse zeigten, sich der großen Wahrheit zu nähern, sich der Seele weiterhin verschlossen und lieber ihr Machtspielchen spielen und mich in ihren Dreck mit hinein ziehen wollten. Das war nie meine Absicht gewesen, andere bewusst zu beleidigen, ich wollte nur gut Freund sein, sehen, wie weit die Menschen bereit waren sich zu öffnen ohne dem anderen den Krieg zu erklären.