Freitag, 8. Oktober 2010

DIE STRASSENKINDER EUROPAS BAND 10,

Einschlafen konnte ich jedoch nicht, denn das soeben Gelesene begann in der Finsternis Gestalt anzunehmen. Ingeborg und dieses andere Mädchen mussten also für ihre Sehnsüchte und Interessen stehen, dachte ich. Sie wollte wahrscheinlich Musikerin werden, vielleicht Klavier oder Trompete erlernen und durfte es nicht, weil sie einer Umgebung ausgeliefert war, die auf die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes nicht einging. Der Bericht über diese verrückte Mutter, die nicht zu Hause aß, sondern auf der Straße, damit die Kinder sie nicht in den eigenen vier Wänden anbettelten, weil sie hungrig waren, war mir ziemlich nahe gegangen. Wie musste es in der Seele dieser Mutter ausschauen, dass sie so grausam zu ihren beiden Kindern sein konnte? Sie selbst aß und ließ andauernd ihre Kinder hungernd und frierend zurück und dies in einem Land in Europa, in dem es weder Hungersnot, irgendwelche Katastrophe wie Dürre oder Heuschreckenschwärme wie in Afrika gab, die die Ernte abfraßen. Nein, und dass der Staat, die Behörden, nichts unternahmen, schockte mich ganz allgemein. Doch da fiel mir die heutige Gesetzeslage der Kinder ein. Es gab bis heute in diesem Land wie in vielen anderen Staaten kein Gesetz, das Kinder vor solchen Wahnsinnstaten bewahrte. Wie hatte der eine Mann zu mir heute im Flugzeug gesagt? Ich erinnerte mich, dass er mir seine Eindrücke von seinem letzten Spanienaufenthalt geschildert hatte. In der Region, wo er gewohnt hatte, gab es jede Menge Arbeitslosen, Arme und Kinder, die auf der Straße standen, so genannte Straßenkinder. Ich kannte diese Slumkinder von Afrika vom Hörensagen und in Südamerika liefen sie mir laufend über den Weg. Doch dass in Europa Tausende, denn es konnte sich ja nur um Tausende und nicht um einige wenige handeln, arme verlassene Kinder hausten, gab mir ordentlich zu denken. Dieses Thema war eines Artikels wert, das wusste ich jetzt, noch mehr als vorhin, als ich bei Clarissa im Cafe gesessen war.


„Was wollen sie eigentlich von mir? Gut, ich schreibe jetzt einen Artikel darüber, meine Freundin hat mir einen Termin bei ihrer Chefin für heute vermittelt, doch…letztendlich weiß ich nicht, was das Ganze soll. Ich kann so wenig tun und ich frage mich, wie ich diesem Kind helfen kann, das ist es doch, was sie wollen.“ „Sie haben es noch immer nicht erfasst, hier geht es um mehr. Betrachten sie doch sich selbst, oder meinetwegen unsere Welt. Glauben sie, dass wir mit unserer Welt zufrieden sein können? Ich habe ihnen schon das erste Mal gesagt, und ich möchte es noch einmal wiederholen. Wir brauchen die Stimme des Gewissens wieder. Menschen, denen wir vertrauen können, die uns führen, hinaus aus dieser Kriese und ich denke, dass sie einen wertvollen Beitrag leisten können, sie haben Talent, das habe ich gemerkt, schon bei den ersten Seiten, die ich damals in Bogota von ihnen gelesen habe, habe ich gewusst, sie sind ein wunderbarer Mann und sie können die Menschen mitreißen und bewegen, ihnen erneut Hoffnung geben.“ „Mit der Hoffnung kommen wir nicht weiter“, entgegnete ich etwas mürrisch. „Das ist zu wenig, das stimmt, Hoffnung geben uns alle diese Projekte, die wir hier gestartet haben, im Glauben, eine bessere Welt zu erschaffen und schauen sie sich an, was daraus geworden ist. Nein, da stimme ich ihnen zu, wir erreichen nichts, nichts durch diese Politik, nichts durch irgendwelche Programme und nichts durch irgendwelche Menschen, die uns alles Mögliche versprechen und nichts halten können. Wir müssen Taten setzen, wirkliche Taten, um das Wohl aller Menschen zu sichern. Doch dies ist nicht im Sinne vieler Staaten der Erde. Trotzdem sage ich, dass sie einen wichtigen Beitrag leisten können, wenn sie nur heraus finden, was es ist, was uns weiter bringt. Versuchen sie es. Haben sie die Akte gelesen? Ja? Das ist erst der Anfang, nicht der Schluss. Wir brauchen einen guten Schluss, verstehen sie, die Leute wollen immer einen guten Schluss für ihr Stück?“ Ich schaute den Mann an und schwieg. Wovon sprach er da gerade? Von einem Theaterstück etwa? Welchen Schluss? Was meinte er damit? Wieso genügte es nicht, wenn ich einen Artikel über die armen verwahrlosten, an den Rand gestellten Menschen schrieb? In unserer heutigen Gesellschaft landete man relativ leicht im Abgrund, es genügte, wenn man sich scheiden ließ oder den Arbeitsplatz verlor, hatte man noch Kinder, konnte man davon ausgehen, dass diese Familie sich relativ bald von Armut bedroht war. Die soziale Unterstützungen durch den Staat fiel in diesem Land ziemlich mager aus, es reichte, dass man nicht verhungerte, doch wie viel konnte sich eine Familie, die arm war, heute noch leisten? Sicher keinen Computer für die Kinder in der Schule, keine Vergnügungen wie Kinobesuch oder Theater, Spielsachen für die Kinder, kein Geburtstagsgeschenk oder Weihnachtsgeschenk und…ich dachte weiter, die Mieten in diesem Land waren in den letzten Jahren nur gestiegen wie in allen anderen europäischen Ländern. Sie waren unerschwinglich hoch geworden, schlimm für eine Familie, die Kinder hatte. Dabei hatten es die Bewohner in Mitteleuropa sicher noch leichter als die in den südlichen oder östlichen Staaten Europas. Dort gab es 30 -40 % Arbeitslose, auch unter den Jugendlichen, was so viel bedeutete, dass die Jungen bei den Eltern leben mussten, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten konnten, es war schwer, eine eigene Familie zu gründen, wovon sollte die auch leben und…“, ich dachte weiter, „…da waren sie wieder, diese Kinder, die auf der Straße lebten, die in reichere Länder geschickt wurden, um zu stehlen, zu betteln und die niemanden hatten, keine Eltern, keine Großeltern, die einfach auf der Straße lebten, nicht vereinzelt, nein, sondern in Gruppen. Ich dachte nach. Wie viele Straßenkinder lebten eigentlich in Europa? Waren es 10 000 oder 100 000? Ich hatte gehört, dass in manchen Ländern Zehntausende solcher Kinder nie etwas anderes gekannt hatten als bittere Armut, und das in Europa im 21. Jahrhundert, die zu Dutzenden erfroren aufgefunden wurden, die verhungerten wie in Afrika oder Asien.