Dienstag, 27. März 2012

BAND 14, DU UND ICH ROMAN

Ich war vorher aufgestanden und in der Stadt herum spaziert, Riga war eine wunderbare Stadt, dies war ein wunderbares Land, das fand zumindest ich. Alle Länder des Ostens waren wunderbar, ob man das nun glauben wollte oder nicht. Viel hatte sich hier seit der Zeitenwende geändert, viel Gutes ist hier entstanden, viel Gutes ist auch hier geblieben und ist nicht verschwunden. Ob das diese Leute aus dem Westen überhaupt bemerkt hatten, dass es auch hier am Ende dieses Kontinents etwas Gutes gab? Da war ich mir nicht ganz sicher. Für die meisten Menschen von uns, ich meinte damit uns Mitteleuropäer, uns Bürger dieser vereinten EU, wir kannten ja nur den Westen, die Zentrale und das zweite Zentrum, das noch weiter westlich lag. Für uns gab es da unmittelbar eine Grenze, wo man den Unterschied zwischen dem fortschrittlicheren und dem zurück gebliebenen Teil dieses Erdkontinents feststellen konnte. Dass dies so war, wusste jeder hier von uns, es zweifelte aber niemand an der Gültigkeit dieser einmal gemachten Aussage. Ja früher war hier alles kommunistisch und schlecht, heute war alles modern, eben westlich ausgerichtet und somit musste es uns gut erscheinen, doch es war in Wahrheit anders. Dieser vernachlässigte Teil der Erde hatte noch sehr viele gute Seiten und so mancher Einheimische hatte dieses Gute bis heute auf seinem Heimatboden übersehen, weil er ständig nach Westen schielte, zu denen, die es seinerseits immer besser gehabt hatten. Mehr Geld, mehr Nahrungsmittel, denn die waren unter kommunistischer Herrschaft sehr rar, generell selten in jenen schreklichen Zeiten auch die üblichen Luxusgüter, von denen die Menschen hier nur träumen konnten. Sicherlich hatte sich vieles jetzt gebessert, aber war es wirklich so einfach? Konnten diese Menschen hier in diesen baltischen Staaten wahrhaft Glückliche genannt werden? Sie hatten sich manches noch erhalten, was wir im Westen verloren hatten. Neue schlimme Erfahrungen waren über sie hereingebrochen, die sie vorher nie gekannt hatten. Arbeitslosigkeit, Armut trotz westlichen Fortschritts, freier Wahlen und einer gewählten Demokratie, Staatsschulden, die nie enden wollten. Die Korruption war nicht verschwuden, dafür verschwunden und für immer verloren große Geldsummen, die der Staat bitter nötig gehabt hätte für weitere Reformen. Was das Letztere betraf, so hatte der Westen vieles mitverschuldet. Ich schlenderte gerade in eine Straße ein und bog mich zu einem modernen Schuhgeschäft vor, blickte in die Auslage und erkannte im Glas mein eigenes Spiegelbild. So viele Waren heute, wer hätte sich dies vor 30 Jahren träumen lassen und doch, hatten wir das, wonach wir uns und vor allem diese Menschen nach 70 jähriger Diktatur gesehnt hatten, auch nur annähernd erreicht? Meiner Meinung nach nicht. Wir hatten alle in unser Lager geholt oder zumindest es versucht, meist nur durch geheime Tricks sie in unser westliches Lager geschleust mit Geldversprechungen, Verträge, die leider bis auf den heutigen Tag wenig taugten. Diejenigen, die wir nicht wollten, weil wir sie einfach nie gemocht hatten, die wollten sich nicht beherrschen lassen von uns, sondern ihren eigenen Weg gehen, die hatten wir von vornherein ausgeschlossen. Unser Westen stand, seien wir doch ehrlich, nicht jedem Volk offen. Wir hatten unsere Feindpropaganda, und diese gab es noch nach dem Fall der Mauer. Da waren zwar offiziell alle Mauern gefallen, doch das Feindbild blieb bestehen. Also, was war der logische Schluss all der Handlungen von jenen politisch agierenden Leute gewesen, die uns eine heile Welt vorgaukeln wollten, fragte ich mich selbst, in dem ich mich noch weiter zum Schaufenster vorbeugte und mit der Nase am Glas anstieß? Es war so geplant gewesen, dass gewisse Gruppen einfach ausgeschlossen wurden. Der Feind da draußen war noch immer da. Die anderen, die nichts verstanden von dem westlichen Plan, die wurden schön langsam ins feindliche Lager gebracht. Irgendwo mussten sie ja dazu gehören und jetzt gehörte dieses Land wie seine Nachbarstaaten diesem europäischen Staatenbund an. Die Armut war noch immer da, der Hass und die dazugehörigen Waffen um einen Krieg zu führen, einen Krieg zwischen West und Ost, die waren überall stationiert. Es hatte sich kaum etwas Wesentliches verändern. Hier gab es noch immer sehr viel Gutes, auch wenn die eigene Bevölkerung und die Leute aus dem Westen es nicht sehen noch glauben konnten. Da waren viele moderne Schuhe, die getragen werden wollten. Doch wer trug sie alle, diese Schuhe? Trug man endlich Schuhe mit Würde, ohne viel Umschweife, sagte jemand endlich das, was gesagt werden sollte, frei heraus, sprach jemand hier im sogenannten Osten, im unterentwickelten armen Osten, wie da drüben im reicheren, immer modernen fortschrittlichen Westen, endlich laut die Wahrheit aus, dass uns allen immer etwas gefehlt hatte? Nein, niemand tat das. Niemand kam in dieses Schuhgeschäft und beschloss dorthin zu marschieren, wo all diese Ungereimtheiten lagen, wo vertuscht wurde, wo vieles geheim gehalten wurde. Sie begnügten sich mit einer billigen Demokratie, sie ließen es gut sein mit freien Wahlen, mit dem Schreien von billigen Worten. Man konnte und durfte heute endlich nach Demokratie gerufen werden, ohne gleich eingesperrt zu werden, man konnte 50 Fernsehkanäle sehen, sich modern kleiden, Geld horten, lügen und betrügen wie die Menschen aus dem Westen. Vieles konnte man, durfte man, manchmal musste man es sogar.
Ich war stundenlang in den Caféhäusern gesessen, hatte den Einheimischen wie den vielen Touristen zugeschaut und ich hatte kaum Unterschiede zwischen den Menschen bemerkt. Es gab einen sprachlichen Unterschied, wohlgemerkt, die einen sprachen die Landessprache, die Touristen redeten in ihrer Muttersprache. Der Unterschied konnte nicht kleiner sein. Da saßen die reicheren Touristen hier und wussten mit ihrem Geld nichts anzufangen, genießen stand auf der Tagesordnung, doch wie. Also wurde wie überall viel Essen hineingestopft in ihre Münder, diejenigen, die vorher über Nahrungsmangel geklagt hatten, waren entweder noch immer arm oder sie waren kaum mehr von diesen Westlern zu unterscheiden und das hatte mich am meisten erschreckt. Dicke übergewichtige Kinder und Erwachsene, die ähnlich wie die fortgeschrittenen modernen Menschen des weiten Westens zu Ende des vergangenen Jahrhunderts mich nur an diese Fastfood Kultur erinnerten, saßen auch hier, sie zeigten alle dieselben Symptome. Falsche Ernährung, Vitamin und Mineralienmangel, Bewegungsmangel, Gedankenmangel, so bezeichnete ich das, weil sie einfach nur fremde Gedanken übernahmen, Bewusstseinsmangel und dann, hielt ich vor dem Schaufenster wieder inne und drehte mich um. Niemand hatte mein komisches Gehabe da vor dem Schaufenster bemerkt. Niemand hatte mitgekriegt, dass ich, während ich die Schuhe da betrachtete, nachzudenken angefangen hatte über diese Realität, die vorhanden und doch mir zu fremd war. Der Westen hatte aus dem Osten einen Westen zu machen versucht, dieser Versuch war gescheitert, noch ehe sie damit begonnen hatten. Sie wollten die Menschen von hier nur in ihr eigenes Lager holen, sie wollten niemals wahre Freundschaft und wahre Liebe vorleben, sie wollten den Menschen ihr Feindbild lassen, das alte zerstören und durch ein neues ersetzen, durch ihres ersetzten, das war alles gewesen. Darum zerbrach auch schön langsam der wunderbare Westen, deshalb gab es bei uns diese Krisen, weil sie alles nur beschönigt hatten, weil keiner bereit war, mit seinen Schuhen, egal wie schön oder grässlich sie aussahen, dorthin zu gehen, wohin man hätte schon längst gehen sollen, nämlich zu den Ursachen unserer Probleme, unseres Leides, zum Urgrund aller Dinge.