Donnerstag, 30. September 2010

TEXTE AUS HINTER MAUERN BAND 10

Eher gehe ich fort aus dieser Firma und gründe meine eigene, als dass ich bereit wäre meine Prinzipien über Bord zu werfen. Aber sie probierte es bei allen ihren Mitarbeitern aus. Wie weit lässt sich ein Angestellter, ein Arbeiter, manipulieren? Wie sehr ist er bereit, auf sich und seine Ideale zu verzichten und jemanden zu Kreuze zu kriechen, nur damit er seinen Job behalten darf? Einerseits braucht sie das, dieses Umwerben und dieses Gefürchtet sein, auf der anderen Seite ist sie ein Mensch und eine Frau und möchte als solche behandelt werden und verachtet diese Menschen, die in dieser Firma angestellt sind. Kannst du dir das vorstellen? Sie spielt ein Doppelspiel, ein hundsgemeines mit diesem Menschen. Sie bringt die Menschen dazu, sich zu erniedrigen, alles hinein zu fressen, den ganzen Frust, den ganzen Mist, den diese Oberen der Firma uns allen eingebrockt haben. Dies weiß sie nur zu gut, dass uns Kleinen keine Schuld trifft, und doch tut sie nichts anderes, als uns diesen Eindruck zu vermitteln. Ihr seid an allem schuld, ihr Arbeiter und Angestellte, weil ihr einen Familie habt, eine Wohnung, was weiß ich habt und eine Stelle in unserer Firma benötigt. Da kommt ihr zu uns und wollt einen gut bezahlten Job. Ihr macht zwar eure Arbeit wie eh und jäh, fleißiger wie zumindest die da oben, macht unbezahlte Überstunden, verzichtet auf vieles, weil ihr hofft, doch noch länger in der Firma bleiben zu dürfen und als braver Arbeiter anerkannt und gewürdigt zu dürfen. Doch alle eure Hoffnungen werden nicht erfüllt. Sie, die da oben sitzt, weiß, dass ihr Auftrag darin besteht, euch die letzten Hoffnungen zu rauben, euch eure kühnsten Träume vom Leben zunichte zu machen. Dies ist ihre wahre Aufgabe, dies weiß sie, darum wurde sie bestellt, und sie tut es. Macht euch die Arbeit zur Hölle, tyrannisiert euch, verachtet euch im Inneren, weil ihr alles hinunter schluckt und gefallen lässt, wo sie doch weiß, dass es besser ist, aufzubegehren. Gleichzeitig weiß sie auch, dass sie selbst unter diesen Umständen leidet, es furchtbar findet, was sie mit ihren Untergebenen macht, was sie dem anderen antut. Und obwohl sie weiß, dass sie Unrecht tut, und den anderen bewusst verletzt und demütigt, vor allem in den Gesprächen mit Gekündigten, an deren Seite zu deren Schutz ja die lieben Leute von der Gewerkschaft sitzen und diese gemeine Frau insgeheim hassen, weil sie den Entlassenen den Todesstoß versetzt, macht sie bewusst weiter, weiß, dass sie verletzt, Unrecht zufügt und weißt du auch warum? Das gleiche passierte ihr als Kind. Sie war ein junges Mädchen und hatte eine schreckliche Familie, das erzählte sie mir erst vor einigen Tagen. Der Vater und die Mutter waren nur geldgierig und hatten nie Zeit für ihre Kinder. Sie besorgten ihr ein Kindermädchen und die Bindung zu diesem war wesentlich stärker als zu ihren eigenen Eltern. So lernte sie als Kind sehr früh den Hass kennen, den Hass auf ihre eigenen Eltern, die sich im Grunde nie beachteten, ihr zwar Geschenke überreichten, es aber nie wirklich ernst meinten. Diese Eltern waren unfähig, jemals wirklich Gefühle zu zeigen ihren Kindern gegenüber. Sie verwöhnten diese Kinder, wenn du so willst, doch meine Chefin, sie war die Jüngste dieser drei Kinder, hat das nie überwunden. Ihre Mutter war Psychologin und hatte als solche kein Fingerspitzengefühl für ihre eigenen Kinder. Als Chefin, so sagte sie mir, könnte sie all ihre Wut an den anderen auslassen, sich selbst heilen. Indem sie diese Mitarbeiten entließ und ich sage dir, es waren nicht wenige, die in unserer Firma gehen mussten, entließ sie ihre Eltern. Immer und immer wieder schickte sie ihre Eltern, diese Mitarbeiter, weg, schickte sie fort und wünschte sie in die Hölle. Das dies eine Projektion von ihr war, sei ihr bewusst. Sie sagte, dass diese Leute auf jeden Fall gekündigt worden wären, wenn nicht von ihr, dann von jemand anderem. Also hatte sie den Job übernehmen und sie war darauf gekommen, ziemlich bald nach ihrer Versetzung hierher, dass sie noch ein Problem mit ihren Eltern, mit ihren Zuhause, ihrer Heimat habe. Es sei ihr völlig bewusst, was sie da tue. Sie betonte noch, dass sie nur die entließ, die es nicht wagten auszubrechen. Sie hasste es, wenn jemand zu unterwürfig war und zu allem Ja und Amen sagte und sich nicht wehrte. Die wurden zuerst entlassen und zusätzlich dann die, die sofort aufbegehrten und sich wehrten und sie hassten. Ich habe ihr damals nur zugehört und sie gefragt, ob sie nicht der Meinung sei, dass sie einen Arzt oder Therapeuten bräuchte. Da schaute sie mich an und lachte, meinte, ob ich verrückt wäre und dieses Gesundheitssystem bei uns nicht verstanden hätte. In unserem Land wurden die Menschen ausgebeutet, die Krankenkassen bluteten schon seit Jahren, man redete vom Sparen und wer sparte wirklich? Man beutete sie aus, die Menschen, betonte sie. Sie habe das selbst erfahren. Früher, vor vielen Jahren wären sie zu allen möglichen Doktoren gerannt und hätte um Hilfe gebeten. Man hatte sie nicht ernst genommen, was zählte war die dicke Brieftasche, die sie hatte. Den meisten Medizinern in unserem Lande geht es nicht um die Gesundheit der Menschen. Sie wollen, dass die Menschen weiterhin krank bleiben, wovon sollten sie denn leben. Wie die große Pharmaindustrie wollten sie abkassieren. Wem lag schon etwas daran, dass der andere gesund wurde? Das wäre ja furchtbar gewesen. Ein Arzt damals hatte ihr reinen Wein eingeschenkt. Er erklärte, man hätte damals all diese Vorsorgeuntersuchungen erfunden, um in den Köpfen der Menschen die Ängste zu schüren, und als Arzt wusste er, was das zu bedeuten hatte. Es gab dadurch noch mehr Kranke. Studien weltweit bewiesen, dass alleine durch Vorsorgeuntersuchungen nur die Krebsrate anstieg und sich keineswegs verringerte. Warum? Ganz einfach, weil diese großen Leute, wie er sie nannte, nichts anderes taten, als Tausende von Ängsten zu schüren und die Menschheit damit zu infizieren. Nun kannst du dir meine Überraschung vorstellen, als sie mir in unserem Gespräch erklärte, dass sie von den Ärzten und Therapeuten furchtbar enttäuscht war. Man bedauerte sie als Gestrandete, als Verwahrloste, als psychisch Gestörte, nannte ihr alle möglichen medizinischen Diagnosen und ließ diese junge Frau blöd sterben. Sie habe damals als junge Frau mitgekriegt, dass es in unserer Welt nicht um Heilung ging. Die Mediziner wollten gar nicht, dass sie gesund wurde. Sie brauchten stets ein Mäntelchen, ein Aushängeschild, damit sie weiterhin wie viele, wie auch sehr viele Politiker und hohen Tiere in der Wirtschaft ihre Ablenkungsmanöver durchziehen konnte. Als sie das mir erzählt hatte, begann meine Chefin vor mir zu weinen. Sie holte den Artikel von dieser Kindsmörderin hervor und sagte weinend, dass sie dieses arme Geschöpf am liebsten freisprechen würde. Stattdessen gehören die Eltern und der Staatsanwalt eingesperrt. Ich konnte nur mitfühlen mit ihr. Sie hat zwar nicht viel über ihr früheres Leben erzählt, nur ein wenig berichtet, aber ich konnte mich in diese Lage eines Kindes hinein versetzen. Man hatte sie wie viele anderen auch links liegen gelassen, das war so üblich. Die meisten Menschen wussten das und auch davon, dass es Jahrzehnte vorher oder sagen wir mal, vor 100 oder 200 Jahren noch schlimmer war. Da waren die Menschen Leibeigene, Sklaven und die Kinder mussten schwer arbeiten. Diese Menschen von heute hatte sicherlich ihr eigenes Schicksal mitgeschleppt und waren wie viele anderen traumatisiert, und eben aus diesem Grund hassten sie die anderen und gönnten ihnen nichts. Diesen Hass zeigten sie in aller Öffentlichkeit und er wurde toleriert und akzeptiert als alleiniger Gemütszustand, dessen man sich vor Publikum zu bedienen durfte. Nein, meine Chefin tat mir in diesem Moment furchtbar leid und ich wusste, dass sie extrem unter der Lieblosigkeit und Brutalität gelitten hatte. Da erinnerte ich mich in jenem Moment, dass sie ja verheiratet, zwar keine Kinder, aber zumindest einen Mann hatte. Als ich auf diesen zu sprechen kam, erläuterte sie mir weiter unter Tränen, dass er sie genauso nicht liebte, er hätte ebenfalls unter seinem Elternhaus gelitten, seine Hassgefühle auf seine Eltern wären so groß, dass er oft nicht in der Lage war, mit ihr als Frau normal zu reden, weil er in ihr unbewusst die verhasste Mutter sah. Ich schwieg zu diesen Worten und meine Chefin berichtete weiter. Sie beide, ihr Mann und sie wären auf ihr Betreiben zu einer wunderbaren Therapeutin gegangen, in der Hoffnung, die Beziehung zu verbessern. Nach wenigen Sitzungen habe sie jedoch begriffen, dass ihr Mann sie und sich selbst und somit auch die Beziehung aufgegeben hatte. Sie sah keine Chance mehr auf Rettung ihrer Ehe. Dann habe sie sich in diese Firma versetzen lassen, in der Hoffnung, dass es ihr besser gehen werde. Man habe ihr eine gute Stelle angeboten, eine entsprechende Bezahlung und zusätzlich, und dabei stockte sie kurz, eine Prämie in Aussicht gestellt, wenn sie so und so viele Mitarbeiter innerhalb eines bestimmten Zeitraumes aus der Firma entfernte. Sie hatte die Stelle angenommen, weil sie eine Arbeit und Ablenkung von ihren privaten Problemen brauchte und hatte zunächst gehofft, dass es hier in der neuen Firma nicht so schlimm werden würde. Leider hatte sich das nicht bewahrheitet. Sie habe noch immer diesen Hass auf ihre Eltern, diese Wut aus ihrer Vergangenheit gespürt und war Menschen begegnet, die sich selbst gegenüber keinerlei Achtung verspürten. Darum habe sie sich nicht gescheut, dieses brutale Regime in der Firma, den neuen Führungsstil zur Rettung und Bewahrung der Arbeitsplätze, so stand es zumindest in den öffentlich Berichten, die an die Bevölkerung verschickt worden waren, zu unterstützen. Sie sprach das laut aus, was ich mir schon lange innerlich gedacht hatte, dass wir alle Unrecht erlitten hatten und weiterhin anderen Unrecht tun würden, ihnen bewusst Schaden zufügten und dass wir dies genau wussten. Wir würden bewusst hassen und töten, denn nichts anderes war es, was diese Firmenchef zurzeit machten, Leute entlassen und sie in den bodenlosen Abgrund stürzen. Das Gesundheitssystem fing sie dann als schwer gestörte Kranke auf und das Sozialsystem sorgte dann dafür, dass sie sich gerade noch am Leben erhalten konnte, nicht verhungerten, aber auch nicht mehr wirklich lebten.
Ich hatte die ganze Zeit dagesessen und Clarissa zugehört. Ich wusste von diesen Problemen hier in Europa, trotzdem hatte ich nicht gedacht, dass es hier schon so schlimm sei. Mit Europa verband ich noch immer diesen Wohlstand, diesen Frieden und die Geborgenheit von früher. Da lauerten kaum Gefahren wie bei uns in Südamerika, keine wilden Tiere, keine Giftschlange, keine Guerillakämpfer, keine Entführungen und kaum Morde. Das letzte Mal als ich hier war, hatte schon die eine Journalistin mich erinnert, dass Europa von einer ungeheuren Welle von Verbrechen heimgesucht wurde. Ich hatte sie nur erstaunt angeschaut, ich hatte da drüben nichts gehört. Gelegentlich sprach man von diversen Neonazigruppen, aber wirklichen Problemen, nein. Die Dame berichtete mir von der schrecklichen Armut überall, den bettelnden Kindern, den Straßenkindern Europas. Ich hatte sie unterbrochen und sie allen Ernstes gefragt, ob sie von Afrika oder einen anderen Kontinent spreche. Nein, erwiderte sie mir, ihr sei es Ernst mit ihrer Aussage. Seit mehr als einem Jahrzehnt werde Europa von einer Pest heimgesucht und sie wolle dieser Krankheit nicht den Namen EU geben. Das wäre zu ungenau und würde nicht den Punkt treffen. Es sei in Europa wesentlich schlimmer, als angenommen werde, und ich war damals sehr erstaunt gewesen. In Europa grassierte die Armut, hockten Familien auf der Straße, gab es Slumkinder, die verhungerten und erfroren, gab es Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmerten, die sie weggaben, weil ihnen das Geld fehlte, sie großzuziehen. Das erinnerte mich an das 18. und das 19. Jahrhundert, an die Sklaverei.