Montag, 20. September 2010

DIE STRASSENKINDER EUROPAS BAND 10,

HINTER MAUERN


Ich saß da und schwieg, legte die Zeitung auf den Tisch und dachte nach. Da vor mir lag dieser Artikel über dieses fast 15 Jahre alte Mädchen, das die ganze Familie ausgerottet hatte, ohne mit der Wimper zu zucken hatte sie ihre Mutter erstochen, der Vater war geflüchtet vor ihr und hatte die Polizei verständigt, in der Zwischenzeit hatte sie sich auf ihren verhassten Bruder gestürzt und ihn kaltblütig erledigt. Schaurig war diese Geschichte zu lesen, schaurig deswegen, weil sie in meinen Augen viel zu einseitig geschrieben war. Der Richter hatte heute das Urteil verkündet, zehn Jahre Haft für die Mutter- und Brudermörderin, die später noch den Vater verletzt hatte, als er erschienen war und der genauso wie ihre Mutter nie zu ihr gehalten hatte. Die Mehrheit der Bevölkerung und viele Leser gaben dem Richter recht, manche von ihnen behaupteten noch, dass dieses Urteil viel zu mild war für dieses Kind. Sie war erst knapp 15 Jahre alt und sollte lebenslänglich sitzen. Nein, ich konnte meine Augen nicht von diesem Bild wenden. Gestern erst war ich von einer längeren Südamerikareise zurückgekehrt nach Europa, war wieder in meiner Heimat, meiner Stadt, in der ich geboren worden war und ich der ich so lange gelebt hatte. Doch mich verband nichts mehr mit dieser Welt. Jedes Mal wenn ich zurückkehrte, spürte ich es wieder, noch mehr Leere, noch mehr Sinnlosigkeit, noch mehr Verzweiflung unter diesen Menschen. Sie verspürten kein Mitleid mit diesem armen Geschöpf, klagten dieses Mädchen des zweifachen Mordes an und ergötzen sich an ihrem Unglück. Ich verstand diese Welt, in der ich hier eintauchte immer weniger. Da drüben im südamerikanischen Urwald unter den Eingeborenen, den Indianern, lebte es sich anders. Ich genoss die Stille des Dschungels, die Friedfertigkeit der indogenen Kulturen. Sicher, sie waren nicht sehr reich, begütert wie wir hier in Europa, doch je häufiger ich in diese Zivilisation eintauchte, desto mehr Wellen von Hass und Verachtung dem Leben gegenüber begegneten mir. Clarissa, meine Freundin von der Redaktion hatte mich in Bogota angerufen und gemeint, dass es Zeit wäre, bei ihr vorbeizuschauen. Ich hatte nichts dagegen, zumal ich gerade in der Stadt war und das Bedürfnis nach einer Abwechslung verspürte. Also setzte ich mich in die nächstbeste Maschine und die ging zwei Stunden später und landete heute früh am Flughafen. Nach der Ankunft im Hotel, in dem ich immer abstieg, tätigte ich meinen Anruf bei Clarissa. Sie steckte in einer Besprechung und meinte nur, ich könnte mal zur Abwechslung einen Artikel über Europa schreiben, irgendein interessantes Thema würde ich schon finden. Sie ließe mir freie Wahl. Ich solle mir etwas überlegen und ihr dann telefonieren. Das war alles. Jetzt saß ich in diesem Cafehaus in der Stadt und betrachtete dieses Foto. In jeder Zeitung war ein längerer Artikel über diese Kindsmörderin, die heute verurteilt worden war. Kein Zweifel, sie hatte Schlimmes getan, doch ich hatte keine Lebensgeschichte von ihr gefunden. Wie sie aufgewachsen war, wie sie gelebt hatte in ihrer Familie. Scheinbar interessierte das niemanden hier. Der Richter fragte nicht, wie die Verhältnisse in der Familie waren, fragte sich nicht, warum ein Kind und das war sie noch, warum ein junges Mädchen von knapp 15 Jahren gewalttätig wurde und die Mutter und den Bruder umbrachte und der Vater vor ihr flüchten musste. Ich widmete mich erneut den Artikeln, die da auf meinem Tisch neben dem leeren Glas Wasser lagen. Ich trank prinzipiell nur Wasser. Die Kellnerin hatte mich komisch angeschaut und mich zweimal gefragt, ob ich nicht mehr wollte als nur ein Glas mit einer Flasche Leitungswasser. Wer im Dschungel lebt, so wie ich, ist froh, frisches, reines, klares Wasser zu haben, so wie ich jetzt da. Ich verlangte nicht nach mehr. Sie kam zurück und stellte mir das leere Glas und die volle Wasserflasche hin und wartete. Ich sah sie an und fragte, ob sie noch etwas wolle. Ich erklärte, ich wolle in Ruhe alle Zeitungen lesen, und zwar wirklich alle, die sie habe. Ich sei Journalist und schreibe für eine bekannte Zeitschrift, Reiseerzählungen, Dokumentationen über fremde Länder. Sie ging und kehrte mit einem Stoß von Zeitschriften und Zeitungen zurück, ich dankte ihr und widmete mich dem Lesen. Sie schaute mich wieder merkwürdig an, fragte aus welchen Land ich stamme und tat sehr erstaunt, als ich ihr berichtete, dass ich kein Ausländer, sondern ein waschechter Einheimischer wäre, der ein wenig von der Sonne Südamerikas gebräunt sei. Sie wollte reden über ihre Schwester in Brasilien, die ausgewandert war, da rief sie ihr Chef zu sich und sie verschwand. Mehrmals kam sie und versuchte ein Gespräch mit mir, doch ich wimmelte sie stets ab. Ich wollte lesen, mich konzentrieren auf ein Thema. Ich suchte dieses faszinierende Gefühl, das mich plötzlich stets packte, wenn ich wusste, worüber ich als nächstes schreiben würde. Heute war es anders. Nichts war da, kein besonderes Gefühl, sondern wieder diese Leere, diese Traurigkeit, wie jedes Mal, wenn ich den europäischen Kontinent verbrachte. Ich spürte hier kein Leben mehr, so wie in Südamerika, keine wahre Lebensfreude. Hier war zwar der Reichtum, das Geld vertreten, doch diese Leere war nicht zu übersehen. Nein, dieses innere Gefühl schwieg in mir. Ich blickte wiederholt dieses arme Mädchen an, das sich hinter ihrem Rechtsanwalt versteckte, weil sie Angst hatte. Sie wollte nicht gesehen werden und war über das Urteil sehr verzweifelt. Sie war jung und ich verstand sie. Wenn sie entlassen wurde, war sie 25 Jahre alt, gebrandmarkt als Verbrecherin, abgestempelt und hatte es noch schwerer wie die heutigen Jugendlichen,die eine Arbeit suchten. Wer nahm eine Mörderin, noch dazu eine Muttermörderin, in seiner Firma auf? Sie durfte im Gefängnis die Schule besuchen und eine Lehre machen, das stellte das Gericht ihr in Aussicht, eventuell später als Lagerarbeiterin oder Verkäuferin irgendwo einen schlecht bezahlten Job annehmen, falls sie einen ergatterte. Mehr jeden Falls nicht. Die meisten Menschen hatte sie schon abgeschrieben. Der schwerverletzte Vater, ihn hatte sie zuletzt attackiert, lag im Spital und schimpfte über sie, nannte sie eine Schlampe, die nichts anderes verdient hatte, lobte seinen toten Sohn, der sein Lieblingskind gewesen und stets brav zur Schule gegangen war. Das war alles, was ich über dieses Kind in den Zeitungen zu lesen bekam. Ich lehnte mich erneut in meinem Sessel zurück und dachte nach. Was wäre geschehen, wenn dieses Verbrechen bei meinen Indianern passiert worden wäre. Wie hätten diese sie behandelt, wie sie verurteilt? Plötzlich musste ich laut auflachen über diese dumme Frage. Niemals wäre so ein Mord in einem mir bekannten indianischen Dorf geschehen. Niemals wäre es so weit gekommen, dazu kannte ich die Bevölkerung zu gut. Sie alle waren nicht reich, doch so weit wäre es nie gekommen, Streitereien ja, die gab es, aber auch die Versöhnung, und war es wirklich unmöglich für jemanden, mit dem anderen auszukommen, so zog er in eine andere Hütte und wurde von dieser Familie aufgenommen. Nie war jemand allein, nie wurde jemand seinem Schicksal überlassen. Darum gab es in den meisten indianischen Dörfern kaum Kriminalität und wenn, dann hing das mit unserer Zivilisation zusammen, mit unserer Gier nach Macht und Geld, nach Kontrolle. Nein, in keiner der mir bekannten Dörfer wäre so ein Mord, noch dazu eines Kindes geschehen. Hätte es Zwistigkeiten innerhalb der Familie gegeben, hätte der Vaterbruder oder der Mutterbruder des Mädchens die Sache bereinigt und das Mädchen liebevoll aufgenommen. Aber diese ehrenwerte Gesellschaft hier in Europa erwähnte mit keinem Wort die Vorgeschichte des Mädchens. Wahrscheinlich war es uninteressant zu wissen, wieso ein Kind zu dieser blutigen Tag fähig war. Niemand wurde als Mörder geboren, niemand als Dieb und Drogendealer in die Welt gesetzt, denn das warf man diesem armen Geschöpf auch vor. Es hätte mit dreizehn oder vierzehn zu Drogen gegriffen. Zwar hatte die Verteidigung sofort eingegriffen und erklärt, dass man das Mädchen unter Zwang gestellt hätte und niemand, weder Vater noch Mutter zur Seite gestanden wären, doch der Richter hatte dem Verteidiger keinerlei Beachtung geschenkt, für ihn zählte nur die Tat und die wog schwer in seinen Augen. Mord, zweifacher noch dazu, dazu Drogenkonsum, schwerer Diebstahl und Schulschwänzen.
Ich überlegte wieder lange. Ich suchte ein neues Thema und wenn mich meine Gefühl nicht betrog, so hatte ich es jetzt gefunden, allerdings anders als ich geglaubt hatte. Es war dieses Mal ein anderes Gefühl, dieses Gefühl der Leere, der Verzweiflung und der Traurigkeit den Menschen und dieser Welt gegenüber, und es war befremdlich für mich und doch so vertraut, denn es erinnerte mich wieder an meine Kindheit, wo mich dieses Gefühl andauernd begleitet hatte, sodass ich, als ich erwachsen war, beschlossen hatte, auszuwandern in einen anderen Kontinent, an einen Ort zu ziehen, wo das wahre Leben noch spürbar und erfahrbar war. Dieses Gefühl war nicht das, was mich bewogen hatte, hier zu bleiben und einen Artikel zu verfassen. Innerlich spürte ich aber, dass hinter diesem Gefühl sich mehr verbarg und meine innere Stimme flüsterte mir leise ins Ohr, dass ich es wagen sollte, mit den Augen des Eroberers, des amerikanischen Eroberers die europäische Welt zu betrachten, die Geschichte der Muttermörderin aus den Augen eines Indianers zu betrachten. Was würden diese Wilden, wie wir sie noch nannten, wie die Weißen in Venezuela sie hießen, die bloß im Urwald hockten und nichts taten, was würde ein traditionell lebender Indianer, der sich an den Gesetzen der Natur orientierte und in Einklang mit der Mutter Erde lebte, was würde er zu dieser Geschichte sagen? Würde er Mitleid empfinden für sie? Würde er sich fragen wie ich mich, wie es dazu kommen konnte, dass in einer christlichen Welt, die seit zwei Jahrtausenden die Nächstenliebe predigte, in einem Sozialstaat, wo es ein großes Netz gab, das einen auffing, wenn es einem miserabel ging, ein Kind zu einer Mörderin wurde, Gewalt ausübte und nicht bereute. Im Gegenteil, der Reporter schrieb in seinem Artikel, dass dieses Mädchen gedroht hatte, jeden umzubringen und dies war auch der Grund, warum der Richter ein so hartes Urteil über sie verhängt hatte. Sie hatte nur Hassgefühle für ihren noch lebenden schwer verletzten Vater, der im Spital mit dem Tode rang, Hass auf ihren Bruder und noch mehr Verachtung für ihre Mutter und für die Gesellschaft. Und diese ehrenwerte Gesellschaft wusste, was sie von einer solchen Unperson zu halten hatte. Man verlangte eine Aufhebung des Urteils und eine noch härtere Bestrafung. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Nein, ein echter Indianer würde niemals ein Urteil anzweifeln und ein Urteil aufheben und es noch verschärfen, das passte nicht in das Weltbild eines amerikanischen Eingeborenen. Clarissa würde mich in knapp einer halben Stunde anrufen und mich fragen, ob mir irgendein Thema eingefallen wäre, ansonsten würde sie mir eines vorschlagen. Sie hatte noch gemeint, dass es eventuell angepasst wäre, wenn ich wieder längere Zeit in Europa, in meiner Heimat wohnen würde. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich war jetzt den ersten Tag hier und verspürte schon das erste unangenehme Gefühl, das mich jedes Mal beschlich, wenn ich in diese verrückte Welt, wie ich diese Zivilisation nannte, zurückkehrte. Ich konnte mich einfach nicht anfreunden mit ihr, so sehr ich es auch versucht hatte. Diese Welt da, in der ich mich bewegte, war nicht meine eigentliche Heimat, in der es sich behaglich wohnen ließ wie unter den Indianern. Ich vermisste diese Freiheit, diese Stille, diesen inneren Frieden, den alle Einheimischen ausstrahlten. Wenn ich hier einem Menschen begegnete, fand ich nur Angst und Verzweiflung und diesen Frust auf das Leben und ungeheure Wut. Langsam erinnerte ich mich, dass ich früher als Kind auch dieses Gefühl mein Eigen nannte, obwohl ich es nie mochte. Es hatte sich meiner bemächtigt, ob ich wollte oder nicht und mich in seinen Bann gezogen. Ich wusste noch, dass mir meine Tante jedes Mal ein Stück Bonbon schenkte, mich in ihre Arme nahm und tätschelte, weil ich, wie sie sagte, viel zu ernst drein schaute. Sie hatte es sofort begriffen, dass ich diese abscheuliche Welt hasste und verachtete, so wie sie, die sich, ich war damals bereits zweimal in Bogota gewesen, in meiner Abwesenheit das Leben nahm, weil sie, wie sie sagte, diese Welt ihr nicht das bieten konnte, was sie sich ihr Leben lang gewünscht hatte, nämlich Liebe und Geborgenheit, Sicherheit und Treue. Stattdessen hatte sie ein schreckliches Leben führen müssen an der Seite eines steinreichen Mannes, meines Onkels, der für nichts und niemanden etwas übrig hatte. Kinder konnte er überhaupt nicht leiden und so stritten sie sich jedes Mal, wenn meine Mutter mit mir auf Besuch kam. Onkel gewöhnte sich aber an mich und nörgelte bald nicht mehr über meine Anwesenheit, weil ich ein ruhiges und braves Kind war, spielte und gleichzeitig den Reden der großen Leute zuhörte. Ich verstand eigentlich alles, was diese sprachen und gleichzeitig begriff ich diese komischen Erwachsenen nicht. Warum taten sie sich alle das an? Warum lebten sie nicht glücklich und gönnten dem anderen sein bisschen Glück? Warum dieser Neid, diese Missgunst, diese Tratscherei und Falschheit und Verlogenheit? Da ich stets so tat, als wäre ich in mein Spiel vertieft, gingen die Erwachsenen davon aus, dass ich kleines Kind nichts mitbekam von ihrem Gespräch und sprachen offen aus, was sie dachten. Zumindest traf dies auf meine Tante zu, darum wurde dann ihr Mann stinksauer, griff zur Weinflasche und betrank sich und meine Tante wurde mit den Jahren immer mehr krank, psychisch krank, wie sie mir eines Tages erklärte. Doch dies würde ich als Kind nicht verstehen, meinte sie. Eigentlich hatte ich schon als Kind mitgekriegt, worum es in dieser Welt ging und darum tat mir dieses arme Mädchen, diese Mutter und Brudermörderin leid. Ich war mir sicher, dass dieses Kind nie beachtet worden war von ihrer Familie. Wahrscheinlich war sie schlecht behandelt worden. Ich konnte es mir nicht anders vorstellen. Die Mutter hatte sie höchstwahrscheinlich jahrelang gequält, sie verbal und physisch attackiert, der Bruder sie gehänselt oder vielleicht selbst zugeschlagen. Was hatte der Vater getan? War auch er ein Täter gewesen wie so viele in unserer Gesellschaft, die nur einfach zuschauten, wenn Kinder missbraucht wurden? Ich kannte ja diese ehrenwerte Gesellschaft zu gut, darum war ich ja geflüchtet und hatte mir ein neues Leben in Amerika aufgebaut, mitten im Urwald lebte ich in jener Harmonie, die mir hier verwehrt worden war. Wahrscheinlich war es diesem Mädchen sehr schlecht ergangen. Vielleicht begann ihr Martyrium schon nach ihrer Geburt. Wer weiß? Sie war ein ungewolltes Kind, die Mutter wollte es abtreiben, doch es war schon zu spät, oder sie wollte einen Knaben und kein Mädchen? Oder das Mädchen hatte Eigenschaften und Fähigkeiten, die die Eltern des Kindes nicht erkannten, sie förderten sie nicht in der Schule, wenn sie regelmäßig zur Schule ging. Sehr viele Eltern heute vernachlässigten ihre Schützlinge, ich wusste dies. Das war unsere moderne Erziehung, unsere neue Welt, die neue Ordnung. Mir wurde jedes Mal speiübel, wenn irgendein Europäer diese Worte in den Mund nahm. In Südamerika waren die Amerikaner nicht in allen Ländern beliebt und diese amerikanische Gier nach noch mehr hatte mich immer abgestoßen. Hier in Europa erlebte ich es immer wieder, wie man diese Wesen von einem anderen Stern, Menschen waren das keine mehr, wie diese Amerikaner auf diesem Kontinent vorgingen, und ich verstand die europäische Bevölkerung nicht. Europa besaß vieles, was in den anderen Erdteilen fehlte, und anstatt dankbar dafür zu sein und diese Schätze zu hüten, gingen die Europäer daran, alles zu zerstören, was man zu einem wahren Leben benötigte. Und darum war mir dieser Kontinent zuwider, und ich hatte nur das Bestreben, wegzugehen, auszuwandern, zu flüchten in eine Welt, die für mich noch in Ordnung war und wo das Leben noch hochgehalten wurde. In den letzten Jahren hatte ich mich jedoch gefragt, ob dies sinnvoll war, auch auf Dauer gesehen, denn es brachte nichts, vor dieser Gewaltbereitschaft, dieser Zerstörungswut und Kriegshetze zu flüchten. Ich glaubte, dass bald ein Punkt erreicht sein würde, wo ich mich fragen musste, wohin mich mein Weg führten sollte, denn ich stand vor einer Straßengabelung. Weiter so zu leben wie bisher, das wollte ich, ich konnte auf den Frieden und die Harmonie, die Liebe und die Freundschaft nicht verzichten, andererseits war diese Gewaltbereitschaft, dieser Hass in unserer Welt so offensichtlich, so deutlich in unserer zivilisierten Welt spür- und erlebbar, dass ich mir sagte, dass ich nicht still dasitzen und schweigen konnte. Auch wollte ich mir nicht das Leben nehmen wie meine Tante und, ich wollte auf keinen Fall psychisch erkranken. Für mich war Krankheit keine Lösung, auch wenn ein Großteil der heutigen Bevölkerung mich ständig daran erinnerte, dass Älterwerden gleichbedeutend sei mit Krankwerden. Mir ging es immer nur um Heilung, um Ganzheit, und zu dieser Ganzheit gehörte nun mal die andere Seite dazu, die weniger angenehme, die Kriminalität, unsere dunkle Schattenseite. Ich war mir jetzt fast sicher, dass ich mein Thema gefunden hatte. Eigentlich hatte es mich gefunden, als ich dieses Bild der Mörderin und Dealerin betrachtet hatte. Warum beging ein Kind einen Mord? Wie musste es in der Seele eines Kindes aussehen, was musste diesem Kind passiert sein, dass es keinen anderen Ausweg mehr sah als zu töten, genau die, die es in die Welt gesetzt hatten? Wie sehr hatte unsere Gesellschaft gefehlt, denn darin war ich mir im Klaren, sie musste, sie konnte nur gefehlt haben, in den Augen des Kindes und auch in meinen, denn wie konnte ein glückliches Kind, das von der eigenen Familie geliebt wurde, zur Mörderin werden?