Dienstag, 21. Februar 2012

BAND 14, DU UND ICH ROMAN





Es hatte mich wieder diese besondere Schwingung erfasst, die ich bisher nicht einordnen konnte. Sie passte zu überhaupt nichts, es war etwas, was so ganz gegen den Strich ging und alle mir bekannten Regeln umwarf. Diese Kraft war einfach da und zwang mich nun fast, mir diesen Schauplatz genauer anzuschauen, die Menschen, wie sie da lebten, beisammen saßen und sich nichts zu sagen hatten. Kluften sah ich da, tiefe Abgründe zwischen den Menschen, unsichtbare Ketten, die sie geschmiedet hatten und die sie zwangen, sich noch mehr zu isolieren. Nein, da war die eine Seite und da war die andere, beide bestanden aus wunderbaren Menschen, fühlte ich, doch beide hielten sich nicht für das, für das ich sie hielt. Die einen Gruppe bestand aus Männer, Frauen und Kindern, die materiell gesehen noch sehr reich waren, die über ausreichend finanzielle Mitteln verfügten und sich diesen superteuren Urlaub hier am Meer, in diesem Land leisten konnten. Daneben standen diese armseligen Männer und Frauen, welche diese Reichen bedienten, schließlich waren sie ja die Kellner und das Dienstpersonal dieses teuren Hotels, sie mussten ihr Geld verdienen, um ihre Familie durchzubringen. Sie verdienten im Vergleich zur dritten Gruppe, die so gut wie kein Geld besaß sehr viel, doch im Grunde genommen konnten sie damit kaum leben. Es reichte nicht aus, denn die Verhältnisse in diesem ehemals kommunistischen Land hatten sich schon lange geändert. Sie gehörten zum Westen, besaßen moderne Demokratie, hatten diese freien Wahlen, eine neue Währung, aber das Land war bankrott, die Regierung machtlos angesichts dieser Krise und …., weiter konnte ich nicht denken. Diese unbekannte Macht riss mich fort von den Hausangestellten diesen neuen Hotelblocks hin zu der dritten Gruppe von Menschen, die in diesem Land sehr zahlreich waren. Das waren die wirklichen Einwohner des Landes, arm wie eine Kirchenmaus, oft kein Dach über den Kopf, sehr viele oder fast alle waren schon in den Genuss gekommen, was es bedeutet, obdachlos zu sein, kein Geld mehr fürs Überleben zu haben. Dann waren untern ihnen noch die wahren Armen, die vielen Straßenkinder, die Kinder ohne Eltern, ohne Familie, die irgendwo gelandet waren und die noch froh waren, dass sie bei jemanden gelandet waren. Diese Kraft schaffte es doch tatsächlich mich zum Nachdenken zu bringen. Wie viele Leute lebten hier im Osten, im schönen Europa unter der Armutsgrenze, wie wenig Geld besaßen sie wirklich? Wann hatten sie das letzte Mal in einem schönen Bett wie in diesem Hotel es sie zu Hunderten gab, geschlafen. Das waren Straßenkinder, nichts als Straßenkinder, die hier in Riga wie in allen anderen Städten des Baltikums herum liefen, im Winter erfroren, weil sich niemand um sie kümmerte. Was tat die Regierung? Sicherlich ihr bestes – doch woher das Geld nehmen, woher Arbeit nehmen für so viele Menschen? An ein Wunder konnte man im goldenen Europa nicht mehr hoffen, das war ausgeblieben, da hatte der Beitritt, die neue Währung, eine Neuwahl nichts gebracht. Das waren die Sünden, die Fehler vieler Generationen, die weltweit weggeschaut hatten, die dieses korrupte Wirtschafts und Geldsystem künstlich am Leben erhalten hatten. Das wusste ich – auch ohne diese mir unbekannte Kraft. Ich blickte in viele mir unbekannte Menschenaugen. Sie waren alle Menschen, sie alle wollten nur eines: leben, vor allem besser leben, konnten sie es?
Ich drehte mich um und widmete mich ganz den nett angezogenen Touristen in diesem Fünfsterne Hotel. Bekam einer von den Touristen überhaupt mit, dass es in diesem Land wirklich arme Menschen gab, die der Hilfe bedurften, nämlich jetzt, und nicht später? Da sah ich wieder das Gesicht dieses verzogenen Bengels der einen Touristenfamilie. Nein, der hatte sicherlich noch nie Hunger gelitten. Sein dickes Gesicht erinnerte mich nur daran, dass er täglich Fast Food und Mengen von ungesunden Nahrungsmitteln in sich hineinstopfte, nur so konnte man zu einem solchen Körper kommen, Fettleibigkeit, Unförmigkeit, Faulheit, sich zu erheben. Der dicke Junge verschlang jetzt sein Eis, ob es wohl sein erstes oder doch schon seit zweites oder drittes Eis heute war. Ich blickte hinüber zur anderen Straßenseite, wo der eine Straßenjunge kurz vorher verschwunden war. Hatte der jemals ein Eis bekommen von seiner Mutter? Vielleicht, als er noch ein Zuhause hatte, Eltern, die sich um ihn kümmerten? Niemand wusste in diesem ehemaligen Ostblockland, wie viele Obdachlose es gab, wie viele Kinder davon betroffen waren. Neulich so hörte ich aus einem Land in Süden unseres schönen Europas, würden viele Eltern genauso handeln wie hier. Eltern würden wegen ihres geringen Einkommens ihre eigenen Kinder auf die Straße stellen, fortjagen, weil sie sie nicht mehr ernähren konnten. Die Regierung hätte kein Geld mehr, um diese Familien zu unterstützen. Grauen hatte mich gepackt, als ich dies aus den Medien erfuhr, jetzt saß ich da und sah diese schreckliche Realität vor mir, Armut, wohin das Auge reichte, überall nur Armut. Reiche, die niemals teilen wollten, weil sie selbst glaubten, arm zu sein, ärmer noch als ihre reichere Freunde, die irgendwo in der Karibik und in der Südsee Urlaub machten mit der ganzen Familie. Reiche, die kein Mitgefühl mehr zeigen konnten, die über alles hinweg schauten, über diese erbärmlichen Verhältnisse hinwegsahen, denen es egal war, dass der Westen, in dem sie selbst lebten, diese neuen Staaten in das Bündnis aufgenommen hatten. Diesen Menschen war sehr vieles gleichgültig geworden, sie sahen diese unsichtbaren Mauern nicht mehr, weder die Ketten, die sie selbst geschmiedet hatten noch ihre schreckliche Erziehung bei ihren Kindern. Der kleine Dicke da, damit meinte ich diesen übergewichtigen Schuljungen, der nach dem Eis schon wieder Essen hinein stopfte, wusste nichts von dieser anderen Welt. Er kannte nur die eine Welt, seine und das war die Welt seiner Eltern, eine andere verstand er nicht und konnte sie auch nicht akzeptieren. So weit war es schon gekommen, dass es keine einheitliche Welt mehr gab, nur mehr viele Welten, in der sich jeder verkroch, es keinen Zusammenhalt gab, keine Hilfe und letztendlich keine Menschenliebe.